02. Juni 2023

Genetische Besonderheiten bei Holstein-Kälbern

"Recumbency" und "BLIRD"

Genetische Ursachen für Auffälligkeiten bei Kälbern in der Holstein-Population erkannt

Die ständig steigende Anzahl an Genotypisierungen in der Holstein-Population hat neben einer besseren Selektionsmöglichkeit und der schnelleren Zunahme des Zuchtfortschritts auch den Vorteil, dass beim Auftreten unerwünschter Merkmale (z.B. schwache oder nicht lebensfähige Kälber) zeitnah Untersuchungen begonnen werden können, die die genetische Ursache aufdecken sollen. In den vergangenen Monaten konnten so genetisch determinierte Merkmale aufgedeckt werden, die die Lebensfähigkeit von Holstein-Kälbern einschränken. Demnächst kann die Suche nach Anlageträgern beginnen und durch Vermeidung von Risikoanpaarungen in Zukunft die Überlebensfähigkeit von Kälbern verbessert werden.

 

CALF RECUMBENCY – Liegenbleiben der Kälber

„Recumbency“ bedeutet „Liegenbleiben“ und wurde entdeckt, als zwei Betriebe in den USA Kälber meldeten, die lebensfähig waren, aber nicht alleine aufstehen konnten. Der Grund für das Liegenbleiben betroffener Kälber ist eine vorliegende Muskelschwäche, die das eigenständige Aufstehen und Stehenbleiben nicht zulässt. Nachdem 18 betroffene Tiere und dieselbe Anzahl an Kontrolltieren genotypisiert wurden, war der Grund für das Liegenbleiben schon bald identifiziert: Ein Gen, das für den Kalziumaustausch in der Skelettmuskulatur und damit für die Signalübertragung verantwortlich ist, rückte als eine mögliche Ursache in den Fokus. Vermutet wird jedoch, dass nicht nur eine Veränderung des Kalziumkanal-Gens für das Liegenbleiben der Kälber verantwortlich ist, sondern zusätzlich auch bestimmte Umweltfaktoren zusammentreffen müssen, damit die Muskelschwäche bei reinerbigen Tieren zutage tritt. Für die Praxis bedeutet dies, dass in wenigen Fällen bei einzelnen Kälbern, die die genetische Voraussetzung von Vater und Mutter erhalten haben, dennoch keine Erkrankung auftritt. Die rezessive Vererbung dieses genetischen Merkmals ist also nicht vollständig penetrant in ihrer Ausprägung.

Wahrscheinlich trat die Mutation erstmalig bei dem 1984 geborenen Bullen Southwind auf. Seine kausale Variante würde über seine Nachkommen (u.a. die Bullen Supersire und Robust) verbreitet. Da über wenige Generationen eine Inzuchtanpaarung oft vermieden wird, trat eine Häufung der Fälle erst einige Generationen später auf, als sowohl von mütterlicher als auch väterlicher Seite die Chance auf ein Zusammenkommen der kausalen Mutation höher war.

 

BLIRD – Wachstumsschwache Kälber und höhere Abgangsrate

Diese genetische Besonderheit mit der Bezeichnung BLIRD (Bovine Lymphocyte Intestinal Retention Defect) ist das Ergebnis einer Mutation bei dem Bullen Bell Elton. Sein Enkel, der Bulle O-Man, scheint der Hauptverbreiter dieser Mutation gewesen zu sein. Sie betrifft ein für die Immunität wichtiges Gen und äußert sich in einem Defekt in der Retention von T-Zellen im Darm; diese sind ein wichtiger Teil des Immunsystems. Eine mögliche Folge ist die verringerte Fähigkeit Darmparasiten zu bekämpfen.

Reinerbige BLIRD-Kälber können lebend geboren werden. Die betroffenen Tiere zeigen eine durchschnittliche Wachstumsverzögerung von etwa 27 % und eine um 10 % höhere Sterblichkeitsrate bei Jungtieren im Vergleich zu gesunden Kälbern.

 

Wie häufig treten CALF RECUMBENCY und BLIRD auf?

Beide Merkmale werden rezessiv vererbt, d. h. es müssen beide kausalen Allelvarianten des Gens im Genpool des Individuums vorhanden sein, damit der beschriebene Phänotyp zum Ausdruck kommt. Mit anderen Worten: Nur homozygote Tiere weisen Symptome auf. Heterozygote Tiere, die sowohl eine gesunde als auch eine mutierte Allel-Version des Gens in ihrem Erbgut haben, zeigen keine Symptome. Diese sogenannten Carrier oder Träger können aber das mutierte Allel des Gens mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an ihre Nachkommen weitergeben, siehe Abbildung 1.

Die Ursachen beider Auffälligkeiten liegen auf unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Genorten. Kälber können demnach sowohl Träger oder reinerbig nur für BLIRD oder Recumbency sein.

Abbildung 1. Rezessiver Erbgang für Recumbency. Bei der Anpaarung von Trägertieren können 25 % der geborenen Kälber reinerbig für Recumbency sein. Phänotypisch äußert sich dies in Kälbern, die nicht alleine aufstehen und stehen bleiben können. Die mischerbigen Träger (50 % aller Kälber bei Risikoanpaarung) sowie alle Recumbency-freien Kälber (25 %) der Elterntiere zeigen keinerlei Symptome. Auch BLIRD wird rezessiv vererbt. Dabei zeigen reinerbige Kälber eine Wachstumsverzögerung („Kümmerer“) und haben eine erhöhte Abgangsrate im Vergleich zu gesunden Kälbern.

Was die Häufigkeit dieser Anomalien anbelangt, so ergeben die ersten Untersuchungen eine Prävalenz von 0,3 % für homozygote BLIRD-Kälber in Frankreich und 0,1 % für homozygote BLIRD-Kälber in Deutschland.

Da die BLIRD-Mutation von französischen Forscherteams entdeckt wurde, werden die Tests und die Veröffentlichung der Ergebnisse durch eine Genotypisierung in Labors möglich sein, die den EuroG MD-Chip verwenden, wie beispielsweise das IFN Schönow. Derzeit wird an einer Einbindung und Berücksichtigung des BLIRD-Genotyps in den Anpaarungsprogrammen gearbeitet.

Recumbency wurde an der Pennsylvania State Universität in den USA aufgedeckt. Es wird erst seit kurzer Zeit ein genetischer Test angeboten, sodass über die Verbreitung des Merkmals in der Holstein-Population momentan noch keine genaue Aussage getroffen werden kann. Das Ziel ist es, den Genotyp für Recumbency in Routine in einigen Monaten auch für weibliche Tiere zu erhalten.

 

Wie kann das Auftreten von BLIRD oder RECUMBENCY vermieden werden?

Das Vorkommen von reinerbigen Kälbern für diese beiden Merkmale kann reduziert werden, indem keine Trägertiere miteinander verpaart werden. Dies wurde in der Vergangenheit bereits bei anderen genetisch unerwünschten Merkmalen erfolgreich praktiziert. Dazu müssen allerdings die Genotypen der Elterntiere bekannt sein.

Alle relevanten Bullen bei SYNETICS werden deshalb untersucht und deren Ergebnisse berücksichtigt, sobald zuverlässige Testergebnisse zur Verfügung stehen. Sobald aussagekräftige Marker auf dem EuroG MD-Chip etabliert wurden, können auch die Genotypen der weiblichen Tiere aus KuhVision und der Herdentypisierung genutzt und in der Anpaarungsplanung berücksichtigt werden. Dies kann noch einige Monate dauern, um die Zuverlässigkeit der Testergebnisse zu gewährleisten. Wir halten Sie über die anhaltenden Untersuchungen und neue Erkenntnisse auf dem Laufenden.

 

Was kann ich bis dahin tun?

Die Meldung von Missbildungen oder Auffälligkeiten bei Kälbern, die keine erklärbare Ursache haben und eventuell genetisch bedingt sein können, erfolgt in unserem Zuchtgebiet auf freiwilliger Basis durch die Mitgliedsbetriebe und ist ein wichtiger Beitrag zum Aufdecken genetischer Besonderheiten. Alle Meldungen werden gesammelt und bei einer Häufig von Vorfällen derselben Art oder der gleichen Abstammung weitergehend untersucht.

Die Meldung kann online über das Formular erfolgen oder über Ihre Kontaktperson bei der MASTERRIND.

Gerne können Sie darüber alle auffälligen Kälber melden, so auch solche, die nicht allein aufstehen und vermutlich von Recumbency betroffen sein könnten, oder Kümmerer, die im Vergleich zu den restlichen Kälbern deutliche Wachstumsverzögerungen zeigen oder vorzeitig abgegangen sind. Damit geben Sie uns die Möglichkeit die Häufigkeit von BLIRD und Recumbency in der Population sowie deren Verbreitung genauer zu untersuchen.

 

Quellen:
BLIRD:
Pressemitteilung Prim‘Holstein, Frankreich, vom 31.8.2022
vit Informationsveranstaltung ZWS Milchrind 15.03.2023
Recumbency:
Dechow et al. (2022): Identification of a putative haplotype associated with recumbency in Holstein calves. JDS Communications 3:412–415, 10.3168/jdsc.2022-0224
Dechow: Mutation sometimes leads to calf recumbency. Hoard’s Dairyman.

Bei Fragen wenden Sie sich gerne an unsere Mitarbeiterin:

Dr. Gesche Claußen

Communication Coordinator SYNETICS

+49 151 74577644

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